Leider einigte der EZB-Rat sich heute - trotz sich eintrübender Wirtschaftsaussichten - noch nicht auf eine weitere Absenkung des negativen Einlagenzinses für Zentralbankreserven. Vorerst bleibt alles wie gehabt. Doch der EZB-Rat betont die Notwendigkeit eines äußerst akkommodierenden geldpolitischen Kurses für einen längeren Zeitraum und hat die entsprechenden Ausschüsse des Eurosystems »mit der Überprüfung von Optionen beauftragt, darunter Möglichkeiten zur Stärkung seiner Forward Guidance zu den Leitzinsen, Ausgleichsmaßnahmen wie die Entwicklung eines gestaffelten Systems bei der Verzinsung der Reserveguthaben und Optionen hinsichtlich des Umfangs und der Zusammensetzung möglicher neuer Nettoankäufe von Vermögenswerten.«
Noch bleibt also offen, ob die EZB ihre Handlungsfähigkeit ein für allemal glaubhaft macht, indem sie die Negativzinspolitik effektiv verstärkt und das Bargeld miteinbezieht. Reza Moghadam hatte noch am Mittwoch in der Financial Times davor gewarnt, bei sich verschlechternden Konjunkturdaten könne sich die Europäische Zentralbank in einen »Papiertiger« verwandeln, wenn sie nicht eine effektivere Negativzinspolitik umsetze.
Dabei ist Moghadam nicht irgendjemand, dessen Urteil man in den Wind schlagen sollte. Der jetzige Vizevorsitzende von Morgan Stanley war jahrzehntelang ein hochrangiger Funktionär des Internationalen Währungsfonds, zuletzt unter Christine Lagarde Leiter der Europaabteilung.
Angesichts der wirtschaftlichen Abschwächung und der anhaltend niedrigen Inflation (für die die Märkte nicht einmal auf lange Sicht das Erreichen des 2-Prozent-Ziels erwarten) müsse die EZB ihre Negativzinspolitik glaubhaft vertreten, fordert Moghadam. Dabei gelte es jedoch, zwei Hindernisse zu überwinden:
Erstens geben die Banken den negativen Zinssatz, den sie für die Reserven der EZB zahlen, noch nicht vollständig weiter, vor allem nicht an Privatkunden. »Keine Bank will ihre Finanzierungsbasis untergraben oder der First Mover sein«, meint Moghadam. Er hat Recht, dass dies auf längere Sicht (wenn Gebührenanhebungen, Provisionsgewinne und die Ausweitung des Kreditvolumens ausgereizt sind) zu einer niedrigeren Rentabilität der Banken führen wird - oder zu höheren Kreditzinsen, was jedoch die Wirksamkeit der Negativzinspolitik beeinträchtigen würde. Daher ist es wichtig, dass die Negativzinsen vollständig weitergegeben werden.
Zweitens bleibt auch bei einer Lösung der Transmissions-Frage das Risiko einer Flucht ins Bargeld bestehen. Da Bargeld eine Rendite von null garantiert, wird bei deutlich negativen Einlagenzinsen noch mehr Bargeld abgezogen werden, als dies heute schon der Fall ist. Die INWO hat immer wieder dargelegt, dass die Bargeldhaltung massiv ansteigt und nicht verharmlost werden darf. Dabei geht es nicht um eine normale Bargeldhaltung für Transaktionszwecke, sondern vor allem um Spekulationskassen und um eine schädliche Form der privaten Vorsorge, bei der Bargeld in Tresoren oder »unter der Matratze« gehortet oder ins Ausland verbracht wird. Dieses Geld steht dem heimischen Wirtschaftskreislauf nicht mehr zur Verfügung, was die Banken und die Wirtschaft destabilisiert. Die INWO fordert daher zurecht, dass unsere Zahlungsmittel ein öffentliches Gut sein müssen, das nicht privatisiert werden darf.
Wenn die EZB die negative Zinspolitik wirklich wirksam machen will, muss sie sich sowohl mit dem Transmissionsproblem als auch mit der Bargeldhortung befassen. »Glücklicherweise gibt es Lösungen«, betont Moghadam mit Hinweis auf das kürzlich beim IWF veröffentlichte Papier »Enabling Deep Negative Rates to Fight Recessions: A Guide« der Ökonomen Ruchir Agarwal und Miles Kimball.
Dabei ist es gar nicht nötig, dass die EZB kleine Einleger vor negativen Zinsen schützt. Wie Agarwal und Kimball schlägt Moghadam vor, die ersten 5.000 Euro auf Girokonten könnten von den Negativzinsen ausgenommen werden. Dieser Vorschlag mag strategisch sinnvoll erscheinen, um die Negativzinspolitik politisch akzeptabler zu machen. Aber wäre es nicht effektiver, den Bürgerinnen und Bürgern vorzurechnen, dass selbst bei einem durchschnittlichen Betrag von 5.000 Euro auf dem Girokonto (den die meisten Haushalte nicht einmal erreichen) und einem jährlichen Negativzins von 5 Prozent keine 5 Euro pro Woche fällig würden? Die positiven Auswirkungen der Negativzinsen auf die Konjunktur, Beschäftigung und auf ihre ganze Lebenssituation, sollten ihnen ein Vielfaches mehr wert sein! Schuldenabbau, neue Investitionen in marode Infrastrukturen, ausreichend finanzielle Mittel für Umweltschutz, Erziehung, Bildung und Pflege bis hin zu Arbeitszeitverkürzung - all dies kann mithilfe effektiver Negativzinsen erreicht werden.
Negative Zinsen müssen der Bevölkerung nur richtig erklärt werden! Die Wirtschaftspresse und selbst die Banken haben sich seit der Einführung des negativen Einlagenzinses durch die EZB im Juni 2014 diesbezüglich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Sie haben sich stattdessen selbst geschadet oder (wissentlich oder aus Dummheit) lediglich die Interessen einer kleinen reichen Minderheit vertreten, die von positiven Zinsen profitiert.
Was das Problem der Flucht ins Bargeld betrifft, so muss Bargeldhortung verteuert werden. Das ist auch die implizite Forderung von Moghadam, der Kimballs und Agarwals Vorschlag untertützt, die Zentralbank könne von den Geschäftsbanken Transaktionsgebühren bei der Bargeldausgabe verlangen. Solche Gebühren würden negativen Zinsen auf Bargeld entsprechen. Die Banken müssten diese dann an die Bargeldhalter weitergeben.
Die diversen Vorschläge zur Erreichung effektiver Negativzinsen habe ich jüngst in einem Beitrag in der Zeitschrift für Sozialökonomie ausführlich dargestellt. Im gleichen Heft hat auch Thomas Seltmann seinen praktischen Vorschlag aktualisiert, durch ein einfaches Ablaufdatum eine Liquiditätsgebühr auf Bargeld zu realisieren.
Statt weiterhin vor allem auf die Ausweitung von Anleihekäufen zu setzen, sollte die EZB endlich die Bargeldproblematik angehen. Um es mit Reza Moghadam zu sagen: »das beste Abschiedsgeschenk«, das Mario Draghi bei seinem Abschied seiner Nachfolgerin Christine Lagarde übergeben kann, »ist ein Mechanismus, um Negativzinsen glaubwürdig zu machen.«
Quellen:
EZB: Pressemitteilung zu Geldpolitischen Beschlüssen vom 25. Juli 2019