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Wera Wendnagel zum 90. Geburtstag

Am 26. Juni 2021 konnte die langjährige 1. Vorsitzende und spätere Ehrenvorsitzende der INWO Deutschland, Wera Wendnagel, ihren 90. Geburtstag feiern. Sie ist eines der allerletzten Urgesteine der Geld- und Bodenreformbewegung.

Collage aus drei Bildern: Zeitungstitelseite "Letzte Politik" mit der Überschrift "Keine Krise mehr in Schwanenkirchen!", ein Geldschein "2 Wära", Foto der Eltern Rudi und Marianne Hoell

Ihre Familienwurzeln reichen bis in die unmittelbare Nähe ihres Gründers Silvio Gesell (1862-1930) zurück. Ihre Eltern Marianne Hoell, geb. Timm, und Rudi Hoell waren Mitarbeiter der von Mariannes Bruder Hans Timm ab 1926 in Erfurt herausgegebenen Wochenzeitung »Letzte Politik«. Schon seit 1919/20 gehörte Hans Timm zum engsten Mitarbeiterkreis Silvio Gesells. Mit tagesaktuellen Bezügen verbreitete die »Letzte Politik« die Ideen der Geld- und Bodenreform als Mittel zur Überwindung von wirtschaftlicher Ausbeutung durch Kapitalzinsen und Bodenrenten. Auf der Grundlage von sozialer Gerechtigkeit sollte die Politik ihren herkömmlichen Kampf zwischen rivalisierenden Interessengruppen ablegen und in eine interessenneutrale wissenschaftliche Suche nach Lösungen gesellschaftlicher Probleme übergehen. Hans Timm und Rudi Hoell hatten sogar ihre Jura- und Medizinstudien abgebrochen, um für den »Physiokratischen Kampfbund« – so hieß der linke Flügel der damaligen Geld- und Bodenreformbewegung – mit ganzer Kraft publizistisch tätig werden zu können.
 

Die WÄRA-Tauschgesellschaft

Zusätzlich gründeten sie 1926 die »Wära-Tauschgesellschaft«, die in Erfurt und zahlreichen anderen deutschen Städten und Regionen das gemäß Gesells Geldreform gestaltete private Zahlungsmittel »Wära« herausgab. Infolge der großen Weltwirtschaftskrise ab dem Herbst 1929 erhielt die »Wära« viel Zulauf. 1931 gehörten ihr bereits über 1.000 Unternehmen aus allen Gebieten der Weimarer Republik an. Als in Schwanenkirchen im Bayerischen Wald ein stillgelegtes Braunkohlebergwerk mit Hilfe von Wära-Krediten wieder in Betrieb genommen wurde, entstand dort binnen kurzer Zeit eine »Wära-Insel«, die – weil überall sonst die Massenarbeitslosigkeit stark anstieg – ein beachtliches Medienecho im In- und Ausland auslöste. Trotz oder wegen ihres lokalen Erfolgs wurde die Wära 1931 im Zuge der damaligen Brüningschen Notverordnungen verboten. Im gleichen Jahr kam Marianne und Rudi Hoells Tochter zur Welt. Zur Erinnerung an das spektakuläre Freigeldexperiment gaben sie ihr den Vornamen Wera.

Die Freundschaft zwischen Rudi Hoell und Hans Timm endete jedoch, als Rudi Hoell Veranstaltungen des von Leonhard Nelson geleiteten Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) besuchte, um darüber in der »Letzten Politik« zu berichten. Bald verband er sich stärker mit dem ISK und schied aus der Redaktion der »Letzten Politik« aus.
 

Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Als Organ der vergleichsweise kleinen Geld- und Bodenreformbewegung konnte die »Letzte Politik«noch bis Anfang 1934 erscheinen. Dann, als das NS-Regime die großen sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen der Arbeiterbewegung zerschlagen hatte, wurde sie endgültig verboten. Ein Jahr später geriet Hans Timm kurzzeitig in die Fänge der Gestapo, was ihn wenig später veranlasste, mit seiner Familie nach Argentinien zu emigrieren. Rudi Hoell blieb in Deutschland, ließ sich in Adelsheim/Baden als Heilpraktiker nieder und beteiligte sich an Widerstandsaktivitäten des ISK, bis die Gestapo ihn 1938 in München verhaftete. Schon am nächsten Tag wurde er in seiner Gefängniszelle tot aufgefunden und es blieb ungeklärt, ob er ermordet wurde oder ob er sich, wie von der Gefängnisleitung behauptet, selbst das Leben nahm. Für Marianne Hoell, die sich ebenfalls an Widerstandsaktivitäten beteiligt hatte, und ihre Tochter Wera begann nun eine mühselige Zeit des Kampfes ums Überleben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte sie sich in der Nähe von Stuttgart eine neue Existenz als Lehrerin aufbauen.

Während der 1950er Jahre lebte Wera Wendnagel zeitweise bei ihren Verwandten in Argentinien. Dort lernte sie fließend Spanisch und übte Tätigkeiten als Korrespondentin und Übersetzerin aus. Um ihrer Mutter in Krankheitszeiten beizustehen, kehrte sie nach Deutschland zurück. Nach einem Studium der Sozialpädagogik fand sie eine entsprechende berufliche Existenz und heiratete den Physiker Theo Wendnagel, der sich für die Gewinnung regenerativer, statt fossiler und atomarer Energien engagierte.

In den Jahren, in denen Wera Wendnagel ihre kranke Mutter umsorgte, erfuhr sie von ihrer Mutter noch viel über die politischen Aktivitäten ihrer Eltern sowie ihres Onkels Hans Timm.
 

Frauenrechte und Aufwertung von Haus- und Sorgearbeit

Einen intensiveren Kontakt zur Geld- und Bodenreformbewegung suchte sie jedoch erst nach dem Tod ihrer Mutter und nach ihrer Pensionierung. In der Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft (SG) nahm sie sich der kritischen Auseinandersetzung mit Gesells Idee an, die vergesellschaftete Bodenrente als Gehalt für innerhäusliche Familien- und Sorgearbeit an Frauen entsprechend der Zahl ihrer minderjährigen Kinder auszuzahlen. Eine derartige gesellschaftliche Aufwertung der Haus- und Sorgearbeit durch eine »Mütterrente« war für Wera Wendnagel allerdings kein Instrument zur Festigung traditioneller Geschlechterrollen. Vielmehr stellte sie sich vor, dass ein solches Gehalt für die innerhäusliche Familien- und Sorgearbeit im Interesse einer Flexibilität der Geschlechterrollen auch an Väter gezahlt werden könnte, wenn sie zugunsten der Erwerbstätigkeit ihrer Frauen teilweise oder ganz auf eine eigene außerhäusliche Erwerbstätigkeit verzichten. Im Zusammenhang mit der innerhalb der Frauenbewegung kontrovers geführten Debatte um einen »Lohn für Hausarbeit« beschäftigte sich Wera Wendnagel auch sehr eingehend mit dem Modell einer Kindheitsversicherung, das die Frauenrechtlerin Hannelore Schröder in Anknüpfung an die niederländische Kinderbuchautorin und -illustratorin Galinka Ehrenfest entwickelt hatte. Auch gehörte Wera Wendnagel zum Freundeskreis der Matriarchatsforscherin Gerda Weiler und hielt verschiedentlich Vorträge bei deren Veranstaltungen, um Verständnis für ihre Auffassung zu wecken, dass die Fürsorge für Kinder – unabhängig davon, ob sich ihre Mütter oder ihre Väter um sie kümmern – von der Gesellschaft finanziell mitgetragen werden muss, statt sie einfach als kostenlosen ›Liebesdienst‹ mitzunehmen und andere davon profitieren zu lassen.
 

Veröffentlichungen und INWO-Vorsitz

Angeregt durch Silvio Gesells utopische Parabel »Insel Barataria« schrieb Wera Wendnagel neben ihren Aktivitäten in der SG einen Roman »Mama Moneta oder die Frauenfolge«, der 1990 im Frankfurter Ulrike Helmer Verlag erschien. Sie hatte weitere Schreibpläne, die sie jedoch schweren Herzens zurückstellte, als die Kräfte des damaligen INWO-Vorsitzenden Hein Beba zu Beginn der 1990er Jahre nachließen und die INWO eine neue Leitung brauchte. Sehr zur Freude aller Beteiligten erklärte sich Wera Wendnagel zur Übernahme des 1. Vorsitzes bereit. In den folgenden Jahren, in denen mit einem spürbaren Anstieg der Mitgliederzahl auch die Häufigkeit und Intensität interner Konflikte zunahm, erwies sie sich als Glücksfall für die INWO, weil sie die wichtige Gabe mitbrachte, bei personellen und inhaltlichen Differenzen besonnen und ausgleichend zu wirken.

Als Wera Wendnagel die Kräfte zehrende Rolle der zentralen Integratorin der INWO nach mehreren Jahren schließlich in andere Hände abgeben konnte, fand sie noch die Muße zur Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen. 2010 erschienen sie wiederum im Ulrike Helmer Verlag unter dem Titel »Mariannes Vermächtnis – Wie mir meine Mutter die Freiwirtschaft beibrachte«.

Mit zunehmendem Alter wurden Spaziergänge mit ihrem ihr sehr ans Herz gewachsenen Hund zu ihrer täglichen Gewohnheit, wobei Wera Wendnagel viel über das Leben nachdachte und ein neues Hobby für sich entdeckte. Mit viel Empathie begann sie auf ihren Spaziergängen durch ein nahegelegenes größeres, noch weitgehend unbebautes innerstädtisches Gelände Tiere zu beobachten. Daraus entstanden ihre 2013 im Hamburger Tredition Verlag erschienenen »Gedanken über Leben und Vergehen – Die Wildnis, die alte Frau und ihre Tiergeschichten«.

Trotz ihres hohen Alters und einer sich seit mehreren Jahren bemerkbar machenden Demenz konnte Wera Wendnagel dank der liebevollen Fürsorge ihrer Tochter Jasmin und deren Familie bislang in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Einen großen herzlichen Glückwunsch zu Wera Wendnagels 90. Geburtstag verbinden wir mit einem ebenso großen Dank für ihr engagiertes Wirken in der INWO und mit der Hoffnung, dass es ihr auch weiterhin wohl ergehen möge.

Werner Onken

 

Dieser Beitrag erschien in der FAIRCONOMY 1/2021