Wie schon im ersten Teil bleibt auch hier der Eindruck zurück, die beiden Autoren haben ja durchaus recht mit ihrer Kritik am System. Aber ihre Ideen für einen gesellschaftlichen Wandel sind bei weitem nicht so überzeugend wie ihre Analyse. Und das liegt daran, dass auch sie sich „linken“ Tabus unterwerfen. Die Bedienung des Kapitals mit positiven Renditen ist in unserer Gesellschaft wichtiger als Ziele wie Gerechtigkeit, angemessene Entlohnung, sozialer Ausgleich, allgemeine Gesundheit oder der Schutz der Umwelt. So heißt es in der Besprechung: »›Die angemessene Vergütung des Kapitals hat de facto den Rang eines obersten Staatsziels erhalten‹ (179). Insofern ist der Staat mit seiner Gesetzgebung für das Auseinanderdriften von Reich und Arm mitverantwortlich.« Für diese durchaus nachvollziehbare Interpretation liefern die Autoren diverse Beispiele. Überzeugend ist auch die These, dass die Verquickung von Posten auf allen Ebenen das Finanzsystems zu einer Selbstbedienungsmentalität bei den Finanzjongleuren und Kapitalverwaltern geführt hat.
Die Unabhängigkeit der Zentralbanken
Die Geldpolitik der formal unabhängigen Notenbanken nutzte letztendlich mehr dem Kapital als der Gesellschaft als Ganzes. Die beinahe unbegrenzte Ausdehnung der Geldmenge in den letzten Jahren diente weder dem sozialen Ausgleich noch der Stabilität der Währung. Kesselring schreibt dazu: »Der Grossteil der neu geschaffenen Milliarden (mehrere Jahre lang jeden Monat 60 Milliarden Euro) floss in die Immobilien- und mehr noch in die Finanzmärkte und trieb die Aktienkurse in die Höhe. Deswegen gab es bis vor Kurzem auch keine Inflation.« Letzteres ist eine wichtige Differenzierung. Die vollkommen überproportionale Ausweitung der Geldmenge führt in letzter Konsequenz zu Inflation. Auch wenn sie über Jahre hinweg zunächst vor allem die Vermögens- und Finanztitel in die Höhe trieb. Die Geldmengenausweitung der vergangenen Jahre ist die Grundlage für die nun offenbarte Inflation. Und diese entwertet jetzt die Einkommen gewöhnlicher Sparer, Rentner, der Lohnabhängigen und all jener, die von staatlichen Zuwendungen leben.
Die vermeintlichen Zinseinkommen der »kleinen Leute«
Bei der Beurteilung der Zinspolitik verfallen beide Autoren einem Dogma, das gleichermaßen von linken wie rechten Ökonomen und eben auch vom Mainstream bedient wird: Geldvermögen haben positive Zinsen abzuwerfen und Negativzinsen schaden uns. Tatsächlich aber entlastet die negative Verzinsung von Geldvermögen alle, die nicht primär von ihren Zinserträgen leben. Sie verringert die Schuldenlast für Staaten, Privatpersonen und Unternehmen. Sie erzeugt Spielraum für mehr Beschäftigung und höhere Löhne. Die negative Verzinsung von Geldvermögen belastet Vermögende, die über einen längeren Zeitraum große Summen horten, anstatt sie zu investieren. Der durchschnittliche Bürger wird durch die niedrigen Zinssätze bei weitem mehr entlastet, als ihn entgangene Zinseinnahmen oder die negative Verzinsung seiner Ersparnisse belasten. Dennoch heißt es in dem Beitrag: »Die bis vor kurzem anhaltende Zinssenkung benachteiligte ebenfalls die ›kleinen Leute‹, deren Bankkonto keinen Ertrag mehr abwirft, und begünstigte wiederum die Wohlhabenden«.
Wer die Fakten betrachtet oder selber nachrechnet, kann nur zu dem Schluss kommen, dass die Negativzinspolitik letztlich die Renditen großer, spekulativ verwalteter Geldvermögen ernsthaft belastet hat. Zu den Verlierern kann man ehrlicherweise nur Akteure zählen, die sechsstellige Eurobeträge über längere Zeit auf Tagesgeldkonten parken.
Ein Tabu und seine Folgen
Geldvermögen haben positive Zinsen abzuwerfen. Dieses Dogma wird bis heute auch von kritischen oder linken Ökonomen nicht hinterfragt. Es ist ein Denkverbot das gravierende gesellschaftliche Auswirkungen zur Folge hat. Wegen dieser eklatanten Fehleinschätzung gelangen die Autoren, wie viele andere gut meinende Kritiker, zu einer unsauberen und im Kern falschen Beurteilung der Zentralbankpolitik. Kritisch heißt es in dem Beitrag: »Die Staatsbanken haben, wegen ihrer Unabhängigkeit, gewöhnlich mehr Macht als die Regierungen. Weder die Flutung der Finanzmärkte mit Geld noch die lang anhaltenden Zinssenkungen kamen den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung entgegen.« Präzise müsste es heißen: Die Flutung der Finanzmärkte hat eine tiefe Rezession mit hohen sozialen und ökologischen Folgekosten verhindert. Besser wäre es allerdings gewesen, die Ursache des Problems durch eine Geldgebühr an der Wurzel zu packen. Auf diese Weise hätte man eine für Ökologie und Ökonomie vorteilhafte andauernde Niedrigzinsphase einleiten können. Die unangemessene Ausweitung der Geldmenge wäre vermeidbar gewesen.
Wer beherrscht den wissenschaftlichen Diskurs und wer bestimmt die Notenbankpolitik?
Problematisch ist in diesem Zusammenhang nicht die Unabhängigkeit der Notenbank. Problematisch ist, welche Interessengruppen die entscheidende Macht haben, die Geldpolitik zu bestimmen. Schon die Auswahl der Personen, die über Geldpolitik bestimmen können, wird heute von Geldgebern und undemokratischen Stiftungen dominiert. Wissenschaftler gelangen nur noch in einflussreiche Positionen, wenn sie sich über die Einwerbung von Drittmitteln als den Interessen des Kapitals zugeneigt erwiesen haben. Ökonomen wie Norbert Häring bilden hier eine Ausnahme, müssen sich aber dennoch gewissen Vorgaben unterwerfen, um in der Zukunft nicht als unseriös abgestempelt zu werden.
Vielleicht ist dies der Hintergrund für einen weiteren unsinnigen Vorwurf. »Gemäss einer neuen Weltbankstudie verstärkt die Unabhängigkeit der Zentralbanken auch die Ungleichheit der Vermögen: Die Regierung kann nicht gegensteuern, wenn die Staatsbank bei zusätzlichen Sozialausgaben mit höheren Leitzinsen droht.« Die Aussage ist zunächst richtig. Sie unterstellt aber eine unklare Motivation der Notenbank. Werden Zentralbank-Zinsen angehoben, weil Sozialausgaben erhöht werden? Das ist doch Quatsch. Eine Anhebung der Leitzinsen ist eine Reaktion auf die steigende Inflation und damit letztlich auf die überproportionale Ausdehnung der Geldmenge, und nicht auf die Erhöhung von Sozialausgaben. Die Ausweitung der Geldmenge wiederum ist eine Reaktion auf die massiv zurückgegangene Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in der Realwirtschaft. Und damit schließt sich ein Kreis, den der geschätzte Norbert Häring leider nicht zu Ende denkt.
Ohne Geldgebühr sind steigende Zinsen kaum vermeidbar
Hohe Zinsen sind seit Jahrhunderten ein Garant für Vermögensakkumulation. Leider sind sie auch ein Garant für soziale Verwerfungen, ökonomische und ökologische Krisen und führen letztendlich zu Krieg oder Bürgerkrieg. Steigende Zinsen sind der Beginn einer Negativspirale. Die Autoren schreiben: »Ein Teil unserer Steuergelder fliesst dann als Zinszahlung des Staates in die Taschen der Anleger und oft genug in die Kassen grosser Finanzinstitute.« Das ist unzweifelhaft richtig. Ebenso fließen große Teile unserer Steuergelder als »Sozialausgaben« getarnt, indirekt als »Subventionen« an das Kapital und im Speziellen an die Grundeigentümer.
Kapital negativ verzinsen
Häring und Kesselring bleiben bei ihren Reformvorschlägen diffus und scheuen davor zurück, den Ursachen an die Wurzel zu gehen. Eine negative Verzinsung von Geldvermögen würde weltweit Milliarden Menschen entlasten und den Zwang zu permanentem Wirtschaftswachstum verringern. Gleiches gilt für eine Abschöpfung der Bodenrente, für die es weltweit gute Vorbilder gibt. Für die Entkapitalisierung des Bodens gibt es seit über 150 Jahren eine fundierte Begründung. Und der Entkapitalisierung von Dollar und Euro ist man beim Internationalen Währungsfonds (IMF), bei der Weltbank und auf Ebene der Notenbanken in den letzten Jahren »gefährlich« nahe gekommen. Es ist völlig unbegreiflich warum die Autoren diese Entwicklung nicht aufgegriffen haben und die Chancen, die sich daraus ergeben, aufzeigen. Es ist zu hoffen, dass dieses Defizit bald nachgeholt wird.
Die Autoren kritisieren zurecht die Macht der Oligarchen und den gewaltigen Einfluss undemokratischer Stiftungen auf die Willensbildung in der Welt. In dem Beitrag heißt es: »Als Verteidiger der Demokratie fühlt man sich unter diesen Verhältnissen nicht mehr ernst genommen. Einer amerikanischen Studie von 2021 zufolge hat das oberste Fünftel der Bevölkerung, statistisch gesehen, den grössten Einfluss auf Regierungs-Entscheidungen. Umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Massnahme umgesetzt wird, umso geringer, je grösser der Anteil an Armen ist, die diese Massnahme befürworten.« Von daher ist es folgerichtig und unerlässlich, Kapitalerträge dauerhaft zu minimieren und sich parallel dazu für eine Pro-Kopf-Rückverteilung von Verschmutzungsrechten, Ökoabgaben, Nutzungsrechten und Bodenerträgen an die gesamte Bevölkerung einzusetzen.
Lesen Sie hierzu auch: »Der neue Feudalismus«, »Mauer des Schweigens« und »The day after: Grund-solidarisch aus der Corona-Krise!«
Klaus Willemsen, 21.02.2022
Verwendete Quellen:
Norbert Häring: Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen», Quadriga-Verlag 2021, 34.90 CHF;
www.infosperber.ch/wirtschaft/uebriges-wirtschaft/wo-der-staat-gegenueber-dem-kapitalismus-versagt/
www.duden.de/rechtschreibung/Feudalismus
www.inwo.de/medienkommentare/der-neue-feudalismus/
www.inwo.de/medienkommentare/mauer-des-schweigens/