Während die Mehrheit der Regierungen in der Welt beschlossen hat, wesentliche Teile der Wirtschaft nahezu stillzulegen, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, stellt sich die Frage: Sind die getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig? Auch wenn wir die Zukunft nicht vorhersehen können: Die Corona-Maßnahmen könnten durchaus als unverhältnismäßig angesehen werden.
Mehr Hungertote als Virustote
Da die Wirtschaft fast lahm liegt, laufen wir Gefahr, eine beispiellose Konkurswelle auszulösen, insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen, in denen die meisten Menschen arbeiten. Es dauerte sechs Jahre, bis die deutsche Wirtschaft am Ende des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zum Erliegen kam. Heute erzeugt die Politik von einem Tag auf den anderen die gleiche Wirkung, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Die Welthandelsorganisation erwartet einen Einbruch des Welthandels um bis zu 32 %.1 Investmentbanken in den USA schätzen, dass das US-Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 2. Quartal um bis zu 40 % fallen könnte.2 Die global vernetzten und integrierten Wertschöpfungsketten könnten zusammenbrechen.
Sicherlich hängt alles davon ab, wie lange die Corona-Maßnahmen aufrechterhalten werden. Wenn es den Unternehmen gelingt, sie zu überleben, werden die Auswirkungen nicht so gravierend sein, aber wenn viele Unternehmen in Konkurs gehen, könnte der Zusammenbruch der Wertschöpfungsketten und damit der Weltwirtschaft noch viele Jahre andauern, selbst wenn die Kontakt-Einschränkungen nach einigen Monaten aufgehoben werden. Wenn die Maßnahmen noch einige Monate anhalten, ist mit Hungersnöten zu rechnen, vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen die Regierungen nicht über die Mittel verfügen, Finanzhilfen für Arbeitslose über einen längeren Zeitraum zu finanzieren.
Dauerte der Shutdown ein Jahr an, könnte das BIP in Deutschland (und ähnlich in vielen anderen Ländern) um bis zu 50 % sinken. Schon drei Monate würden zu einem BIP-Einbruch von 12,5 % führen. Wenn die Menschen weltweit im Durchschnitt 12,5 % weniger verdienen, dann werden die Ärmsten, die ohnehin schon kaum über die Runden kommen, verhungern. Die Ärmsten, das sind fast 30 % der Bevölkerung in den Entwicklungs- und Schwellenländern und 10 % der Weltbevölkerung, also etwa 700 Millionen Menschen (Abb. 1). Es ist jedenfalls leicht vorstellbar, dass eine Hungersnot weltweit weitaus mehr Todesfälle verursachen wird als das Virus. In Chile verhungern bereits Bettler und Straßenverkäufer, da niemand auf den Straßen unterwegs ist, der Almosen geben könnte. Hunger und Unterernährung und die daraus resultierende Schwächung des Immunsystems könnten auch zur Ausbreitung anderer Krankheiten führen.3
Auch die Auswirkungen auf die Psyche sind schwer: Der Zwang, sich praktisch in den eigenen (oder auch nicht eigenen) vier Wänden einzuschließen, hat wahrscheinlich bereits zu einem Anstieg der Selbstmordraten und der Todesfälle durch häusliche Gewalt geführt.4
Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Es ist aber durchaus möglich, dass allein hierdurch weltweit mehr Todesfälle auftreten als durch das Virus. Hinzu kommen diejenigen Menschen, die sterben, weil sie jetzt nicht adäquat behandelt werden können, da Krankenhausbetten für Corona-Patienten reserviert sind. Schlimmstenfalls kann sogar nicht ausgeschlossen werden, dass die schwere Wirtschaftskrise zu Spannungen zwischen den Ländern führt, die dann in militärische Konflikte mit weiteren Toten ausarten könnten. Es genügt, ein beliebiges Geschichtslehrbuch zu öffnen, um daran erinnert zu werden, dass die meisten großen Kriege von großen Wirtschaftskrisen begleitet waren.
Verhältnismäßigkeit fraglich
Aufgrund all dessen ist es fraglich, ob der verfassungsmäßige Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird. Warum ist die Quarantäne nicht einfach auf die zur Risikogruppe gehörenden Personen beschränkt? Dann könnten die meisten wirtschaftlichen Aktivitäten normal weitergeführt werden, die Verluste hielten sich in Grenzen. Wenn es möglich ist, ein legitimes Ziel mit einer weniger starken Einschränkung der Freiheit zu erreichen, dann verpflichtet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den grundlegenden Rechtsprinzipien eines Rechtsstaates gehört, den Gesetzgeber sogar dazu. Die Gefahren eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs würden dadurch vermieden.
Corona stützt Kreditnachfrage
Wieso schützt man nicht lieber gezielt die Risikogruppen? Könnten andere Interessen im Spiel sein? Einige vermuten, dass es darum geht, den Verkauf eines Impfstoffs zu fördern. Aber möglicherweise steht viel mehr auf dem Spiel, denn die Krise liefert einen Vorwand für massive staatliche Interventionen. 193 aller 195 Länder der Welt haben riesige Konjunkturpakete zur Rezessionsbekämpfung angekündigt oder bereits parlamentarisch verabschiedet. Da die meisten Länder nicht über ausreichende Mittel für diese außergewöhnlichen Ausgaben verfügen, wird diese expansive Fiskalpolitik durch Defizite finanziert.5
Und das ist genau das, was unser Weltfinanzsystem braucht, weil es bereits im September 2019 kurz vor einer »Kernschmelze« stand. Banken brauchen solvente Schuldner, die Großkredite abnehmen … und die Staaten brauchen jetzt viel Geld für die Corona-Hilfspakete. Man kann sich fragen, wer von all dem profitiert.
Die meisten Menschen würden Bailouts wie in der letzten Finanzkrise heute nicht mehr akzeptieren –
wohl aber schuldenfinanzierte Corona-Rettungspakete!«
2008/2009 retteten Regierungen in aller Welt Banken mit geliehenem Geld, geliehen von genau dem Bankensystem, das gerettet werden sollte. Auch die Einrichtung so genannter »Bad Banks«, in denen »toxische Kredite« gesammelt wurden, für die letztlich der Staat haftet, bedeutete, dass ausfallgefährdete Kredite in Triple-A-Forderungen gegen den Staat, d.h. gegen die Steuerzahler, umgewandelt wurden.6 Die meisten Menschen würden solche Bailouts heute wahrscheinlich nicht mehr akzeptieren. Schuldenfinanzierte Corona-Rettungspakete akzeptieren sie aber! Und falls eine schwere Finanzkrise auch damit nicht vermieden werden kann, wird kaum jemand erkennen, dass das regelmäßige Auftreten von Krisen unserem Finanzsystem inhärent ist7, stattdessen würde dem Virus die Schuld gegeben.
Exponentielles Geld- und Schuldenwachstum
Auch wenn die Zinsen aktuell sehr niedrig sind, entwickeln sich die Einlagen auf den Bankkonten exponentiell, denn irgendwann verdoppelt sich bei jedem prozentualen Wachstum der Betrag. Der flache Teil der Exponentialkurve ist bei einem niedrigeren Zinssatz länger (schwarze Kurve in Abb. 2), aber irgendwann kommen wir auch hier zum steilen Teil der Kurve. Nun mag jemand einwenden, dass eine solche exponentielle Entwicklung der Einlagen nur auf Konten stattfindet, von denen kein Geld abgehoben wird. Da Abhebungen aber in der Regel als Einlagen bei einer anderen Bank enden und dort bei positiven Zinsen Zuwächse generieren, entwickelt sich auch die Gesamtgeldmenge einer Volkswirtschaft (bestehend aus Bargeld und Bankeinlagen) exponentiell. Abb. 3 zeigt im oberen Teil die Entwicklung des Geldvermögens in Deutschland. Die exponentielle Entwicklung bis zum Jahr 2000 ist deutlich erkennbar. Ab 2001 wurde sie aufgrund der damaligen Aktienwertverluste und danach durch die Zinssenkungen etwas abgebremst. Die Tendenz ist aber immer noch steigend, da das Volumen der Geldvermögen so immens groß ist.
Auch in anderen Ländern entwickelt sich die Geldmenge exponentiell. Wahrscheinlich genau aus diesem Grund hat die US-Notenbank die Geldmenge M3 seit 2006 nicht mehr veröffentlicht. Damit verringert sich die Gefahr, dass die Menschen merken, dass die Dollar-Geldmenge in den letzten 20 Jahren deutlich schneller gewachsen ist als die Produktionsleistung der US-Wirtschaft. Wenn die Geldmenge jedoch schneller wächst als die Produktion, besteht nach der bekannten Quantitätsgleichung von Irving Fisher und im Prinzip auch nach allen anderen Inflationstheorien ein Inflationspotenzial; wenn auch zunächst möglicherweise nur an den Investitionsmärkten – wie Aktien- und Immobilienmärkten, die hier als eine Art »Notfallventil« für die zunehmende Geldmenge fungieren – überhöhte Preise zu beobachten sind.
Hier liegt die Ursache für die Aktien- und Immobilienblasen (lat. inflare = aufblähen), deren Platzen Krisen auslösen kann. Die Spekulation ist also nicht die eigentliche Ursache der regelmäßig auftretenden Finanzkrisen, sondern ein Symptom einer immer größer werdenden Geldmenge. Und deshalb fallen wir auf das herein, was Irving Fisher 1928 die »Geldillusion« nannte8: Da die Inflation nur an den Preisen von Konsumgütern gemessen wird, erkennen wir das reale Verhältnis von umlaufendem Geld zu realen Produkten und Dienstleistungen nicht. Opportunitätskosten durch wachsende Aktien- und Immobilienpreise könnten sogar dazu führen, dass Menschen Geld von den Konsumgütermärkten abziehen, um in Aktien oder Immobilien zu investieren, weshalb wir sogar eine Deflation verzeichnen könnten, obwohl die Geldmenge immer noch schneller wächst als die Produktion. Diesen Effekt könnte man als Inflations-Deflations-Paradoxon bezeichnen.9
Da es ohne Verschuldung keine Zinsen gibt, muss die Gesamtverschuldung jeder Volkswirtschaft im gleichen Tempo wachsen wie die Geldvermögen. Deshalb erscheinen Geldvermögen und Gesamtverschuldung in der Grafik »gespiegelt«. Hinter dem zunehmenden Abstand zwischen den beiden Kurven verbirgt sich die ebenfalls exponentiell wachsende Ungleichheit.
Das System muss früher oder später zusammenbrechen
»Die Banken haben
trotz historisch niedriger
Einlagenzinsen
Probleme, ihren
Verpflichtungen
nachzukommen, da das
Einlagenvolumen
so groß ist.«
In jeder Volkswirtschaft kommt unweigerlich ein Zeitpunkt, an dem die Wirtschaftsleistung nicht mehr ausreicht, um die stetig wachsenden Zinsverpflichtungen zu erfüllen. Der Zusammenbruch tritt in der Regel dann ein, wenn die Banken nicht mehr genügend solvente Kreditnehmer finden können, um die ständig wachsenden Einlagen mit Zins und Zinseszins zu bedienen. Dies geschieht etwa alle 50-80 Jahre, abhängig vom durchschnittlichen Zinssatz. Die Einlagen wachsen unaufhörlich, auch wenn die Banken den Einlagenzins weiter senken. So haben die Banken trotz historisch niedriger Guthabenzinsen Probleme, ihren Verpflichtungen nachzukommen, da das Einlagenvolumen bereits sehr groß ist. Es wird für die Banken immer schwieriger, die Guthabenzinsen zu verdienen, nicht nur, weil die bei ihnen registrierten Einlagen unaufhörlich wachsen und bedient werden müssen, sondern auch, weil die Kunden – und in der Regel auch der Staat als bester Kunde der Geschäftsbanken – einen hohen Verschuldungsgrad erreicht haben.
In ihrer Notlage beginnen die Banken daher, Kredite auch an Kreditnehmer mit zweifelhafter (Subprime-)Bonität und zu immer niedrigeren Zinssätzen zu vergeben, während sie auf der anderen Seite immer niedrigere Einlagenzinsen zahlen. Später wird ihnen vorgeworfen werden, die Kreditrisiken nicht ordnungsgemäß geprüft zu haben. Aber die Banken haben wirklich keine Wahl, wenn sie ihr Geschäft nicht aufgeben wollen. Selbst das Glücksspiel auf eigene Rechnung (Investmentbanking) kann als verzweifelter Versuch interpretiert werden, die Zinszahlungen auf Einlagen in einer Zeit aufrechtzuerhalten, in der die Einnahmen aus der Kreditvergabe immer stärker zurückgehen.
Je länger ein Finanzsystem besteht, desto niedriger ist das Zinsniveau. Genau dies ist in vielen Ländern der industrialisierten Welt zu beobachten. Die Zinsen sinken nicht, weil die Zentralbank eine Geldpolitik des billigen Geldes verfolgt, sondern weil der Markt nicht mehr bereit ist, höhere Zinsen zu zahlen. Zentralbanken folgen hier grundsätzlich nur dem Markttrend. Doch nun sind sie an eine Grenze gekommen. In der Rezession bräuchte die Wirtschaft weitere Zinssenkungen, die die EZB jedoch nur umsetzen kann, wenn auch das Bargeld negativ verzinst wird.
Finanzsystem am Rande einer »Kernschmelze«
Diejenigen, die die Nachrichten aus der Finanzwelt aufmerksam verfolgen, haben vielleicht bemerkt, dass das Weltfinanzsystem bereits im September 2019 wieder am Rande eines »Zusammenbruchs« stand, ähnlich wie im Jahr 2008, als sich die deutsche Bundeskanzlerin und der Finanzminister gezwungen sahen, dem überraschten deutschen Volk an einem Sonntagabend zur besten Sendezeit zu versichern, dass die Einlagen sicher seien (was de facto eine Lüge war). Fast panikartig reagierte die US-Notenbank im September letzten Jahres auf Liquiditätsengpässe im Finanzsystem und stellte eine so genannte »ständige Repo-Fazilität« bereit. Dabei handelt es sich um ein Instrument, mit dem die US-Notenbank bei Bedarf praktisch unbegrenzt Liquidität gegen als hochsicher geltende US-Staatsanleihen bereitstellen kann.10
Dies ist eine neue Etappe einer seit 2008 verfolgten quantitativ lockeren Geldpolitik, die nicht nur die US-Notenbank, sondern auch andere Zentralbanken betreiben müssen, um den Geldfluss aufrechtzuerhalten und eine Deflation zu vermeiden. Die EZB betreibt seit März 2015 ein massives Quantitative Easing (QE), d.h. die künstliche Ausweitung der Zentralbankgeldmenge durch den Ankauf von Wertpapieren hauptsächlich des öffentlichen Sektors (hellblauer Bereich in Abb. 4). Die geldpolitischen Aktiva des Eurosystems sind von 0,5 Billionen Euro am Vorabend der Krise im Juli 2008 auf fast 3,3 Billionen Euro Ende September 2019 gestiegen.
Abb. 4: Die konsolidierte Bilanz des Eurosystems: Geldpolitische Aktiva.
Quelle: EZB11
Die US-Notenbank hatte unter ihrem Präsidenten Ben Bernanke schon zuvor auf diese Art ihre Bilanz um mehrere Billionen US-Dollar ausgeweitet. Mit ihrem neuen Finanzinstrument, einer echten Liquiditäts-»Panzerfaust« (Durden12), holt nun die Fed bei diesem »Wettrüsten« wieder gegen über der EZB auf. Der Umfang der Fed-Repo-Geschäfte hat sich seit September stark ausgeweitet. Was mit einem Volumen von 75 Milliarden für Übernachtkredite und 30 Milliarden für längere Laufzeiten begonnen hat, wurde nun (Mai 2020) auf wöchentliche Einmonats- und Dreimonatsoperationen für jeweils 500 Milliarden US-Dollar aufgestockt.
Ein Kommentator drückte es treffend so aus: »... was die Fed braucht, ist das monetäre Äquivalent zu Dr. House: jemanden, der diagnostizieren kann, was tatsächlich mit den monetären Leitungen nicht in Ordnung ist, anstatt mit der gleichen alten Schrotflintenmethode Billionen an stumpf gewordener Liquidität in den Markt zu schaufeln...«12
Corona hilft dem Bankensektor
»Hinter der Zunahme von Vermögen und Schulden verbirgt sich die ebenfalls
exponentiell wachsende Ungleichheit.«
In einer solchen Situation spielt die Covid-19-Pandemie dem Bankensektor in die Hände, weil die jetzt notwendig gewordene massive staatliche Intervention die Kreditaufnahme fördert. Während die Banken kurz vor der Pandemie noch mit ihrer verzweifelten Suche nach zahlungsfähigen Kreditnehmern zu kämpfen hatten, werden nun enorme, noch nie dagewesene Kreditvolumina vom öffentlichen Sektor der meisten Länder der Welt, nicht nur der Industrieländer, nachgefragt werden. So wurden z.B. in Deutschland, aber auch in Japan, den USA oder lateinamerikanischen Ländern wie Chile die größten jemals verabschiedeten Konjunkturpakete kürzlich von ihren Parlamenten genehmigt. Darüber hinaus ist auch die Kreditnachfrage von privaten Unternehmen in vielen Ländern stark gestiegen. Unternehmenskredite werden jetzt häufig aufgrund staatlicher Garantien gewährt. Dies ist ein sicheres Geschäft für die Banken. In Argentinien hat die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das eine Staatsgarantie für Kredite mit einem Jahreszinssatz von bis zu 24 % gibt, die kleine und mittlere Unternehmen benötigen, um die Zahlung der Gehälter aufrechterhalten zu können.
Noch nie waren die staatlichen Interventionen so intensiv wie heute. Selbst nach der Finanzkrise 2008 waren die Konjunktur- und Bankenrettungspakete nur etwa halb so umfangreich wie die jetzt verabschiedeten. Seit 2008 sind zwölf Jahre vergangen, und weil Einlagen und Schulden exponentiell wachsen, muss nun auch entsprechend mehr aufgebracht werden, um das System zu »retten«. Erneut ein solches Geldvolumen zur Rettung der Banken aufzubringen, würden die meisten Menschen wahrscheinlich nicht gutheißen. Schon 2008 waren viele überrascht über die großen Geldsummen, die plötzlich aus dem Nichts aufgebracht werden konnten und die theoretisch den Welthunger für 566 Jahre hätten beseitigen können.13 Aber Geld für Konjunkturmaßnahmen aufzunehmen, die zunächst uns allen dienen, wird nur von wenigen in Frage gestellt. Und wenn die Finanzkrise, die früher oder später unweigerlich zuschlagen wird, doch nicht weiter aufgeschoben werden kann, dann wird auch jetzt niemand das System in Frage stellen. Im Jahr 2008 (wie auch 1929) war es die Schuld der gierigen Banker; jetzt ist es das Virus, wird behauptet werden.
Historische Chance für ein neues Weltfinanzsystem
Nun mag es etwas weit hergeholt sein, zu behaupten, die Corona-Krise sei absichtlich herbeigeführt worden. Aber es ist eine Tatsache, dass schuldenfinanzierte Konjunkturpakete genau jetzt dem Finanzsektor helfen. Doch besser als sich auf immer neue und immer größere staatliche Interventionen zu verlassen, wäre es, endlich ein Finanzsystem zu schaffen, das nicht regelmäßig in eine Krise gerät. Hier könnten wir von Silvio Gesell lernen, der als Einwanderer in Argentinien vor über 100 Jahren zwei Finanzkrisen erlebte und erkannte, dass diese systemimmanent sind.
Um Gesells Vorschlag zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass Geld im heutigen Finanzsystem zwei widersprüchliche Funktionen erfüllen soll. Zum einen ist Geld ein Tauschmittel, es soll den Austausch von Gütern erleichtern. Zum anderen lesen wir in Lehrbüchern, dass Geld auch ein Mittel zur Wertspeicherung ist (z.B. Mankiw & Taylor, 2014). Silvio Gesell erkannte, dass dieser Widerspruch die regelmäßig wiederkehrenden Finanzkrisen hervorruft.
Abb. 5: Vom Eurosystem gemeldeter Bargeldumlauf im Euro-Währungsgebiet in Mio. Euro (Bestand)
Quelle: © EZB-Statistiken
Geld wird, wenn immer mehr gehortet bzw. gespart wird, seiner Funktion, den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu erleichtern, kaum gerecht. Es droht Deflation. Unser Geld fließt und erleichtert den Austausch von Gütern nur, wenn die Bank den gesparten Anteil wieder verleiht und damit in Umlauf hält. Jahrzehntelang hielt der positive Zins unser Geld in Umlauf: Wir brachten es gegen die Zahlung von Guthabenzinsen zur Bank, und die Bank verlieh es gegen die Zahlung von Kreditzinsen weiter. Dadurch wuchsen jedoch Geldmenge und Schulden ständig, und mit ihnen auch Inflation, Preisblasen, Ressourcenverbrauch und Ungleichheit.
Silvio Gesells »Freigeld«
Wie Geld im Fluss bleibt ohne positive Zinsen, genau diese Frage hat sich Silvio Gesell vor über 100 Jahren gestellt. Gesell schlug ein »freies«, vom »Urzins« befreites Geld vor.14 Mit einer Gebühr auf Bargeld wollte er einen starken Anreiz schaffen, das Geld nicht zu lange zu horten, sondern es auszugeben, zu investieren oder zu verleihen. In einem solchen System freut sich der Sparer, wenn ihm jemand sein »rostendes« Geld abnimmt und verspricht, es ihm später in gleicher Höhe zurückzugeben.15 Die einzelnen Geldeinheiten werden so vergänglich wie reale Güter, die Währung jedoch bleibt stabil. Rostendes Geld führt dazu, dass der Geldzins für Kredite gegen null tendiert.
»Die aktuelle EZB-Politik
kann bisher nicht als
Umsetzung von Gesell
angesehen werden.«
Die Rolle der Banken in einem solchen Finanzsystem würde sich nicht sehr von ihrer heutigen Rolle unterscheiden. Die Banken wären dann Verwalter von »Freigeld«-Einlagen und Vermittler (gegen Vermittlungsprovision) für zinslose Kredite. Auch Sparen für die Zukunft wäre in diesem System möglich. Aber die Bank einlagen würden nicht positiv verzinst. Die Sparer könnten sich auch an produktiven Investitionen beteiligen, wobei auch hier Banken als Vermittler fungieren könnten.16 Anstatt Gebührenmarken auf die Banknoten zu kleben, kann man sich heute weniger umständliche Möglichkeiten vorstellen, dem Geld den gewünschten Umlaufimpuls zu geben, wie zum Beispiel aufladbare (anonyme) Geldkarten, deren Wert mit der Zeit abnimmt.
EZB: bisher keine Gesellsche Lösung
Nun mag jemand sagen, dass wir in Europa bereits kaum noch Zinsen für Hypothekenkredite zahlen, und die Europäische Zentralbank verlangt sogar negative Zinsen für Einlagen von Geschäftsbanken. Viele Geschäftsbanken ihrerseits haben bereits damit begonnen, diese negativen Zinssätze auf die eine oder andere Weise an ihre Kunden weiterzugeben. Benoît Cœuré, damals Mitglied des EZB-Direktoriums, hat die Negativzinspolitik der EZB 2014 mit den Vorschlägen von Gesell verglichen.17 Auch in der jüngeren wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wurde die EZB-Politik mit dem Vorschlag von Gesell in Verbindung gebracht.18
Die aktuelle EZB-Politik kann jedoch bisher nicht als Umsetzung von Gesell angesehen werden.19 Im Gegensatz zu Gesells Vorschlag gibt es noch keinen negativen Zins (Hortungsgebühr) auf Bargeld. Bargeld kann und wird weiterhin gehortet werden, und seit die EZB mit ihrer Negativzinspolitik begonnen hat, hat das Horten von Bargeld weiter zugenommen (Abb. 5). Dies ist ein großes Problem. Im heutigen Finanzsystem können die Banken die Zinssätze für Einlagen nicht auf null setzen (und schon gar nicht unter null), ohne den Abfluss von Geldern zu riskieren. Dies liegt daran, dass die Kunden immer noch die Möglichkeit haben, Bargeld zu Hause zu horten.
© geralt / pixabay.com / Christina v. Puttkamer
Wenn die Banken nicht mehr genügend kreditwürdige Kreditnehmer finden können, um die Zinsen für die Einlagen ihrer Kunden zu bedienen, wenn auch spekulative Investitionen aufgrund der strengeren Bankenregulierung (Basel III) kaum noch möglich sind, und wenn es auch bei Einlagen bei der EZB nichts zu gewinnen gibt, sondern die Banken im Gegenteil »Parkgebühren« bei der EZB zahlen müssen, dann bleibt den Geschäftsbanken auf lange Sicht jedoch keine andere Wahl, als auch für die Einlagen ihrer Kunden negative Zinsen zu verlangen. Viele Banken in Europa haben bereits damit begonnen, und die EZB will, dass sie dies tun. Aber diese Banken laufen nun Gefahr, ihre Kunden zu verlieren. Diese können ihr Geld abheben oder es zu denjenigen Banken bringen, die, weil sie über ein größeres Eigenkapitalpolster verfügen, immer noch einen kleinen (positiven) Zins zahlen oder zumindest keine negativen Zinsen verlangen. Selbst wenn alle Banken einer konzertierten Aktion zur Erhebung negativer Zinsen auf alle Einlagen zustimmen würden, bestünde immer noch die Möglichkeit, Bargeld zu Hause zu horten! Die Gefahr von Bankenpleiten, und damit des Zusammenbruchs des Finanzsystems, würde sogar noch wachsen.
Nur Bankeinlagen zu belasten, ohne den von Gesell vorgeschlagenen negativen Zinssatz für Bargeld zu verlangen, dürfte nicht nur nicht den erwünschten Effekt haben, das Geld im Umlauf zu halten, sondern im Gegenteil das Risiko von Bankpleiten und damit eines Bank Runs erhöhen. Umgekehrt würde ein negativer Zinssatz, der an Bargeld geknüpft ist, auch auf Einlagen erhoben werden (aber nicht umgekehrt). Der negative Zinssatz auf Einlagen wäre dann der gleiche wie auf Bargeld und für alle Banken derselbe, wodurch Wettbewerbsverzerrungen vermieden würden.20 Die negativen Zentralbankzinsen müssen also auch das Bargeld einschließen, wenn man die Negativzinspolitik der EZB mit dem Vorschlag von Silvio Gesell vergleichen wollte.21
Keine Angst vor negativen Zinssätzen
»In der Rezession
bräuchte die Wirtschaft
weitere Zinssenkungen,
die die EZB jedoch nur
umsetzen kann,
wenn auch das Bargeld
negativ verzinst wird.«
Viele mögen nun um ihre Ersparnisse fürchten, wenn sie von negativen Zinsen hören, die auch auf Bargeld erhoben werden. Kritiker des Gesell-Vorschlags verwenden daher oft den Begriff »Schwundgeld«. Eine Ansicht, die sich seit Beginn der Negativzinspolitik immer wieder wiederholt, ist, dass die Sparer nun um ihre Zinsen betrogen würden. Doch tatsächlich ist der Zins ein ungerechtes Einkommen, weil er nicht auf der eigenen Arbeitsleistung des Kreditgebers, sondern auf der des Kreditnehmers beruht. Das liegt da ran, dass Geld in Wahrheit nicht arbeitet, wie uns die Bankpropaganda oft glauben machen will. Es sind vielmehr die Menschen, diejenigen, die sich das Geld leihen und es produktiv und auf eigenes Risiko investieren, die in der Regel hart arbeiten, um die Zinsen erwirtschaften zu können, die die Banken dann auf die Einlagen zahlen. Eigentlich könnte man es daher andersherum formulieren: Nicht der Sparer wird durch negative Zinsen betrogen, sondern der positive Kreditzins ist wie ein Betrug am Kreditnehmer; denn der Kreditnehmer muss Zinsen für etwas zahlen, das selbst keinen Wert hat, sondern nur einen Wert repräsentiert. Denn Geld ist nur eine Recheneinheit, keine wirkliche Ware oder ein Produktionsfaktor mit innerem Wert.22 Stell dir vor, du gehst zu einer Autovermietung, und statt des gemieteten Autos erhältst du den Fahrzeugschein, der das Auto repräsentiert. Die meisten würden sich wahrscheinlich betrogen fühlen. Im Übrigen wird der dem Bargeld anhaftende negative Zins nicht höher sein, als es heute die Inflation ist. Anders als letztere ist der negative Zins aber steuer- und vorhersehbar.
Ausblick: Die Krise nutzen
Die gegenwärtige Krise könnte als Chance für eine Reform unseres Finanzsystems genutzt werden. Die Durchsetzung effektiver negativer Zinssätze, die auch auf Bargeld angewandt werden, d.h. die Einführung des Gesellschen Freigeldes, ist ein Mittel zur Vermeidung einer Deflation, die jetzt die Weltwirtschaft bedroht. Sowohl John Maynard Keynes als auch Irving Fisher hielten den Vorschlag Gesells für geeignet, die Wirtschaft aus der Großen Depression der 1930er Jahre herauszuführen. Und gerade jetzt stehen wir am Rande einer neuen Großen Depression, die noch schlimmer werden könnte als die letzte, da die Wertschöpfungsketten heute globalisierter und stärker voneinander abhängig sind.
Fazit: Es ist nicht ratsam, zu versuchen, Probleme dadurch zu lösen, dass man immer wieder den gleichen Fehler wiederholt. Wir haben jetzt die historische Chance, etwas anderes zu tun.
Felix Fuders, Professor am Ökonomischen Institut der Universidad Austral de Chile und Direktor des Right Livelihood College, Campus Austral (rlcollege.uach.cl) und seit 2017 1. Vorsitzender der INWO.
Carlos Louge, Professor an der Juristischen Fakultät der Universidad de Buenos Aires, Autor des Buches: »Keynes & Gesell – Neues Paradigma?« und Direktor des Instituto de Estudios Económicos Silvio Gesell (institutogesell.com.ar).
Dieser Beitrag erschien in der FAIRCONOMY 2/2020
[1]https://www.wto.org/english/news_e/pres20_e/pr855_e.htm
[3] Rund 820 Millionen Menschen litten laut UN-Welternährungsbericht 2018 an Hunger: http://www.fao.org/3/ca5162en/ca5162en.pdf
[4]https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-in-quarantaene-nimmt-haeusliche-gewalt-in-china-deutlich-zu-16694738.html; https://unric.org/de/06042020-guterres/
[5]https://www.imf.org/en/Topics/imf-and-covid19/Policy-Responses-to-COVID-19
[6] Fuders, F., 2009. Die natürliche Wirtschaftsordnung als Option nach dem Zusammenbruch. Aufklärung & Kritik, 16(2), S. 128-145.
[7] Creutz, H., 1993. Das Geldsyndrom. Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft. München: Müller/Herbig.
[8] Fisher, I., 1928. The Money Illusion. New York: Adelphi.
[9] Fuders, F.; Mondaca, C.; Azungah, M., »The Central Bank’s dilemma, the Inflation-Deflation Paradox and a new interpretation of the Kondratieff waves«, in: Economía (U. de los Andes), Vol. XXXVIII, Nr. 36 (2013), S. 33-66.
[11] © EZB: https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2019/html/ecb.sp191112~5808616051.en.html
[12] Tyler Durden (Pseud.) am 16.03.2020: https://www.zerohedge.com/markets/repo-market-breaks-again-forcing-fed-scramble-emergency-500bnrepo-operation
[13] Max-Neef, M., 2010. The World on a Collision Course and the Need for a New Economy. Ambio, Band 39, S. 200-210.
[14] Gesell, S., 1949. Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld. Lauf: Rudolf Zitzmann. S. 235 ff.
[15] Ebd., S. 264 f.
[16] Vgl. Fuders, F., 2010a. Alternative concepts for a global financial system – an answer to the present world financial crisis. Estudios Internacionales, Issue 166, S. 45-56.
[17] Cœuré, B., 2014. Life below zero – learning about negative interest rates. Online unter: https://www.bis.org/review/r140911a.htm
[18] Agarwal, R. & Kimball, M., 2015. Breaking Through the Zero Lower Bound – IMF Workig Paper. Washington: IMF; Assenmacher, K. & Krogstrup , S., 2018. Monetary Policy with Negative Interest Rates: Decoupling Cash from Electronic Money – IMF Working Paper. Washington: IMF.
[19] Fuders, F. & Löhr, D., 2014. Hat die Europäische Zentralbank ein Tabu gebrochen?. Fairconomy, Dezember 2014, S. 4-5.
[20] Fuders, F., 2016b. Negativzinsen ja – aber richtig. Fairconomy, Dezember 2016, S. 6-11.
[21] Fuders, F. & Löhr, D., 2016. Die EZB und Silvio Gesell – Eine neue Partnerschaft? Humane Wirtschaft, Heft 6/2016, S. 4-9.
[22] Galbraith, J. K., 1983. El Dinero – De dónde vino / Adónde fue. 2. Aufl. Buenos Aires – Madrid: Hyspamerica, S. 78.