1. Im CGW-Rundbrief ist schon oft über die Aussagen der Heiligen Schrift über den Zins und das Zinsnehmen berichtet worden. Insbesondere der frühere und langjährige CGW-Vorsitzende Prof. Dr. Roland Geitmann ist als Autor zu dieser Thematik hervorgetreten.
2. An dieser Stelle soll nicht wiederholt oder vertieft werden, sondern auf einen anderen Aspekt verwiesen werden, den der Zukunftsperspektive.
3. Eine Frage der Perspektive ist die nach der Vorliebe für Gegenwart oder Zukunft. Die Ökonomen behaupten weitgehend eine Gegenwartspräferenz. Ein positiver Zinssatz erklärt sich daraus: Wenn ich heute auf den Konsum verzichte, möchte und muss ich morgen (in der Zukunft) mehr bekommen oder mehr konsumieren können. Sonst würde ich doch nicht verzichten wollen. Der Zinssatz stellt dann den Ausgleich, die Gleichwertigkeit von Gegenwart und Zukunft her. Eine Belohnung für das Aufschieben des Konsums in Form eines positiven Zinssatzes.
Es war der österreichische Ökonom Eugen Böhm Ritter von Bawerk (1851 - 1914), so sein richtiger Titel oder Name - oft verkürzt als von Böhm-Bawerk -, der die Theorie der Minderschätzung künftiger Bedürfnisse aufstellte. Wir sprechen auch von der erwähnten Gegenwartspräferenz.
4. Für gläubige Christen gibt es Zukunftshoffnung und Zukunftsperspektive. Hebräer 13, 14: "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." Johannes 14, 2: "Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn nicht, so hätte ich es euch gesagt. Ich gehe hin, um euch eine Stätte zu bereiten." Die Hinwendung auf die zukünftige Welt im Jenseits macht Christen frei von der Bevorzugung des Hier und Jetzt. Es gibt eine Hoffnung, eine Zuwendung der Zukunft gegenüber, auch bei aller Unvorhersehbarkeit.
Gegenwärtiger Konsum oder Konsummaximierung, Fixierung auf das Hier und Jetzt steht dem gegenüber oder besser gesagt, entgegen. Für Christen bedarf es keiner Belohnung für das Sparen in Form des Zinses, keine Belohnung der Zukunftsgerichtetheit gegenüber der Gegenwart. Auferstehungshoffnung und ewiges Leben sind die Verheißungen, besser als jeder Zins.
5. Diese Perspektive bietet sich nicht ausschließlich gläubigen Christen. Wer an die Unsterblichkeit der Seele, Wiedergeburt und ein gutes Karma glaubt, kann wie gute Christen der Zukunft Vorrang vor der Gegenwart einräumen.
6. Wenn der Zins Ausdruck einer Gegenwartspräferenz sein soll, dann müssten sich auch Zinsänderungen als Änderungen der Gegenwartspräferenz interpretieren lassen. Die Theoretiker der Gegenwartspräferenzlehre würden dies vom Ergebnis oder Markt her auch tun wollen. Wir müssen uns aber fragen, ob eine Gegenwarts- oder Zukunftspräferenz der Wirtschaftssubjekte in relativ kurzer Zeit sich so stark verändert. Nehmen wir als betrachteten Zinssatz z.B. den Zins für deutsche Staatsanleihen mit 10jähriger Laufzeit, so schwankt dieser binnen eines Jahrzehnts beträchtlich. Die Gegenwartspräferenz dagegen müsste eher eine psychologisch bedingte mittel- bis langfristige Konstante sein, für deren Erschütterung kurzzeitig keine Gründe gefunden werden können. Berücksichtigt man die Rolle der Notenbanken bei der Festlegung des Leitzinses oder der Leitzinsen, so haben sich diese in der jüngsten Vergangenheit als alleinbestimmend für die Zinsentwicklung erwiesen. Die Vorstellung, dass über den Zinsanreiz Sparmittel für Investitionen mobilisiert werden müssten, ist überholt. Über Anleiheankaufsprogramme haben die Notenbanken Geld in die Wirtschaft gepumpt. Unter anderem zur Stabilisierung der stark verschuldeten Südländer und Banken im Euroraum hat die EZB negative Zinssätze zeitweise zugelassen. Ausdruck einer steigenden Zukunftspräferenz? Wohl kaum.
7. Gegenwartspräferenz hat im Extremfall etwas von: "Nach mir die Sintflut". Zukunftspräferenz geht anders, ist Vorsorge, Achtsamkeit. Bewahrung der Schöpfung, Klimagerechtigkeit auch und gerade für kommende Generationen. Niedrige oder gar negative Geldzinssätze ermöglichen mehr Investitionen in eine derartige und lebenswerte Zukunft, etwa für Umweltschutz, Energie- und Verkehrswende... Der Geld- und Bodenreformer Silvio Gesell (1862 - 1930) wollte Geld /Liquidität mit Durchhaltekosten belegen, damit es sich zur Verfügung stellt.
Der Jahrhundertökonom John Maynard Keynes(1883 - 1946) erklärt den Zins nicht wie von Böhm-Bawerk mit einer Gegenwartspräferenz, sondern als Belohnung für die Aufgabe/Preisgabe von Liquidität. Den Gedanken von Silvio Gesell, das Geld mit Durchhaltekosten zu belegen, hat Keynes für richtig befunden. Der (positive) Geldzins ist so etwas wie ein Lösegeld, damit der Geldbesitzer sich der Liquidität entledigt. Das ist ebenso verwerflich wie eine Schutzgelderpressung.
8. Eugen Böhm Ritter von Bawerk soll hier nicht als nur als zu kritisierender Buhmann dargestellt werden. Der spätere Nobelpreisträger Paul A. Samuelson zitiert ihn in seinem Standardlehrbuch "Volkswirtschaftslehre" - übersetzt nach der III. amerikanischen Auflage (von 1955) - auf S. 604 in einer Fußnote, dass "es immerhin denkbar sei, daß die positiven Sätze der Nutzung eines Kapitalgutes während seiner gesamten Lebensdauer gerade jeweils nur so hoch sind, daß sie die Kosten der Ersatzbeschaffung decken. Mit anderen Worten, es ließe sich denken, daß der Satz gerade der Abschreibung entspräche und nichts mehr für die Verzinsung übrigließe." Das ist der Zinssatz für Realinvestitionen in einem stationären Gleichgewicht, wie ich anmerken möchte.